Wochenandacht

für die Woche vom 5. bis zum 11. Mai


Predigt am Sonntag, 5. Mai, über 2. Mose 32,7-14,
von Pfarrer Hans-Helmuth Schneider


Der Herr sprach aber zu Mose: Geh, steig hinab; denn dein Volk, das du aus Ägyptenland geführt hast, hat schändlich gehandelt. Sie sind schnell von dem Wege gewichen, den ich ihnen geboten habe. Sie haben sich ein gegossenes Kalb gemacht und haben’s angebetet und ihm geopfert und gesagt: Dies sind deine Götter, Israel, die dich aus Ägyptenland geführt haben. Und der Herr sprach zu Mose: Ich habe dies Volk gesehen. Und siehe, es ist ein halsstarriges Volk. Und nun lass mich, dass mein Zorn über sie entbrenne und sie verzehre; dafür will ich dich zum großen Volk machen.
Mose wollte den Herrn, seinen Gott, besänftigen und sprach: Ach, Herr, warum will dein Zorn entbrennen über dein Volk, das du mit großer Kraft und starker Hand aus Ägyptenland geführt hast? Warum sollen die Ägypter sagen: Er hat sie zu ihrem Unglück herausgeführt, dass er sie umbrächte im Gebirge und vertilgte sie von dem Erdboden? Kehre dich ab von deinem glühenden Zorn und lass dich des Unheils gereuen, das du über dein Volk bringen willst. Gedenke an deine Knechte Abraham, Isaak und Israel, denen du bei dir selbst geschworen und verheißen hast: Ich will eure Nachkommen mehren wie die Sterne am Himmel, und dies ganze Land, das ich verheißen habe, will ich euren Nachkommen geben, und sie sollen es besitzen für ewig. Da gereute den Herrn das Unheil, das er seinem Volk angedroht hatte.

Liebe Gemeinde,

in Israel sollte es das nicht geben, dass man irgendwelche mehrere Götter verehrt und ihnen auch noch Bildnisse und Statuen macht, die den Menschen und Tieren dieser Welt nachempfunden waren. Alle anderen Völker und Kulturen hatten das, aber in Israel sollte es anders sein. Dennoch erliegen die Israeliten der Versuchung, die ihnen sagt: Macht das doch auch so wie alle anderen! Sollte Gott denn gesagt haben …? Ja, er hat es gesagt, aber wie schon bei Adam und Eva im Paradies tun die Menschen nun genau das Gegenteil und machen sich ein goldenes Kalb. Und dann wird Gott zornig. Vernichten will er sie und stattdessen soll nun Mose ein neuer Abraham werden, ein besserer Stammvater eines besseren Volkes Gottes. Aber Mose kann ihn davon wieder abbringen.

Da ist er wieder, der zornige Gott des Alten Testaments. Könnte man meinen. Und ja, es wird sehr menschlich von Gott hier erzählt. Geradezu nach dem Vorbild des Menschen möchte er jetzt dreinschlagen, kaputtmachen, alles ganz anders machen. Und doch auch wieder nicht. Und doch auch wieder nicht. So endet es ja nicht. Denn da ist noch etwas anderes. Denn nun beginnt etwas aufzuscheinen, was mehr als nur menschlich ist; was größer und höher ist als die Gedanken und Gefühle, die wir Menschen normalerweise haben.

Mose versucht es noch mit Überredungskunst. Das kann er ganz gut. Er versucht, Gott bei seiner Ehre zu packen. Sollen ausgerechnet die Ägypter sagen, jetzt hat dieser Gott so einen Aufwand getrieben mit dem Auszug aus Ägypten und nun vernichtet er sie alle? Das wäre doch peinlich, Gott. Peinlich nicht so sehr für uns Menschen, sondern peinlich für dich. Das stimmt auch.

Aber Gott antwortet nun eben nicht: Ja, du hast recht, Mose. Das wäre peinlich für mich. Sondern da steht dann einfach: Da gereute den Herrn das Unheil, das er angedroht hatte. Es gereute ihn. Es ging ihm nicht um seine Ehre, die er um jeden Preis aufrechterhalten wollte. Wenn es ihm darum gegangen wäre, wäre er tatsächlich wie ein Mensch. Nein, es gereut ihn. Das ist etwas anderes. Und es kann nur eines bedeuten: Es gereut ihn, weil er sein Volk doch liebt. Hier bricht etwas hervor wie Strahlen hinter einer dunklen Wolke hervorkommen: In Wirklichkeit will Gott gar nicht strafen und vernichten. In Wirklichkeit liebt er sein Volk eben doch. Trotz allem liebt er es.

Eben doch und trotz allem. Das macht Gottes Größe aus. Eben doch und trotz allem liebt Gott die Menschen. Und dafür muss Gott viel aushalten. Er muss dafür mehr aushalten als ein normaler Mensch aushalten kann. Die Dummheit, dass die Israeliten gern ein goldenes Kalb verehren wollten, ist dafür nur ein Beispiel. Und wir wissen alle, wie schwer es ist, über so etwas hinwegzukommen – wenn jemand jemand anderem sagt: Ich will dich nicht mehr. Ich habe kein Vertrauen in dich. Ich glaube lieber an etwas anderes. Das tun ja viele. Und Gott liebt sie eben doch und trotz allem.

Man könnte jetzt viele weitere Beispiele aufzählen, was Gott aushalten muss, obwohl er die Menschen liebt. Wer die Menschen liebt, muss ihre Irrtümer aushalten, ihre Besserwisserei, ihre Selbstüberschätzung, alles zu wissen und zu können. Wer die Menschen liebt, muss den Missbrauch des Glaubens für andere Zwecke aushalten, für Zwecke der Machtausübung, der Politik, der menschlichen Selbstüberhöhung, all die falschen Gottesbilder, die die Menschen erschaffen haben. Wer die Menschen liebt, der muss die Gewalt aushalten, die Menschen ausüben, den Hass, die Kriege und die Zerstörungen, die sie anrichten. Man kann überhaupt nicht alles aufzählen, aber eines noch, und das ist etwas anderes als was ich bisher gesagt habe: Wer die Menschen liebt, der muss auch die Unvollkommenheit der Menschen aushalten, die Krankheiten, die körperlichen und die seelischen Deformationen, unter denen so viele leiden; der muss überhaupt auch das ganze Leiden aushalten, von dem Menschen und auch die Welt betroffen sind. Und darf sich eben nicht abwenden davon. Und darf das alles eben nicht mit Verachtung oder Vernichtung strafen.

 

Aber das ist es nun: eben doch und trotz allem. Gott liebt die Menschen doch. Wir gehören trotz allem zu ihm. Und sollte die Menschheit eines Tages sich selbst vernichten, die Mittel dazu hat sie ja, genauso wie die Mittel, es nicht zu tun – sollte die Menschheit eines Tages sich selbst vernichten, und sie tut es dann ja von selber und ganz von allein, weil sie auf den falschen Weg abgebogen ist, dann würde nicht einmal das Gottes Liebe zu uns zerstören können. Er würde sie trotzdem weiter lieben. Denn seine Liebe kommt aus der Ewigkeit und die gilt für die Ewigkeit.

Was ich hier zu sagen versuche, ist: Gott erscheint uns manchmal wie ein Mensch. In Jesus Christus war er sogar genau das: ein Mensch für uns. Aber schon bei Jesus war das mehr als nur das allgemeine Menschliche, denn eigentlich, in Wirklichkeit, ist Gott viel größer und höher, unendlich viel größer und höher als wir Menschen, ja als die ganze Welt, weil er uns kennt und uns trotzdem liebt, so sehr, wie kein Mensch mehr lieben kann; weil er die Sünder liebt und nicht nur die Gerechten, weil er die Verlorenen liebt, die Zweifler, die Unvollkommenen, die Kranken - und nicht nur die, die den Erfolg der Welt auf ihrer Seite haben, die reich sind oder hoch angesehen, oder die immer so genau wissen, was richtig und falsch ist.

Diese Liebe Gottes macht uns Menschen frei. Diese Liebe Gottes ist nämlich nicht daran gebunden, dass wir Voraussetzungen erfüllen müssen, weder die Voraussetzungen, die diese Welt so gerne verlangt, noch etwaige Voraussetzungen, die angeblich aus der Religion kommen müssten. Diese Freiheit, die von Gott kommt, ist möglich, weil es Vergebung gibt. Diese Freiheit, die von Gott kommt, kann alles ertragen, weil seine Liebe so groß ist, dass sie alles verzeiht. Die Liebe Gottes wünscht sich nicht, dass wir die Freiheit missbrauchen, zum Beispiel indem wir Gewalttäter werden, oder Pharisäer, die andere verurteilen und sich selber erhöhen. Oder dass wir die Religion, dass wir das Christentum missbrauchen für die falschen Zwecke. Und doch geschieht es andauernd, und nicht immer nur bei anderen, sondern auch bei uns, dass wir Gott eben nicht mehr vertrauen, dass wir Dummheiten machen, dass wir uns für das Falsche entscheiden, dass wir uns weit entfernen von dem, was Gott sich eigentlich für uns wünscht oder vielleicht sogar eigentlich für uns vorgesehen hat.

Aber darauf kann man nur sagen: Ja, so ist es, aber er liebt uns eben doch und trotz allem. Selbst wenn uns Menschen nicht mehr lieben. Selbst wenn wir uns selber nicht mehr lieben. Er tut es weiterhin. Manchmal verbirgt sich diese Liebe wie hinter einer dunklen Wolke. Aber dann kommen ihre Strahlen doch wieder durch. Sie kommen immer wieder. Sie werden niemals aufhören. Es ist das Verdienst der Geschichten des Alten Testaments, dass dort offenbar darum gerungen worden ist, Gott richtig zu verstehen. Das heißt: Gott so zu verstehen, dass man ihn sich eben nicht einfach wie einen Menschen vorstellt. Und dass seine Größe, seine überweltliche Größe eben damit zu tun hat, dass seine Liebe jedes Maß und jede Grenze übersteigt. Im Alten Testament ist das manchmal noch versteckt. Im Neuen Testament ist dann ganz deutlich die Rede davon. Und eines Tages, eines Tages – da werden es alle sehen.

Amen